Achim Menges und Thomas Speck haben ein Verschattungssystem entwickelt, das das Klima in Innenräumen ohne zusätzliche Energie reguliert. Möglich macht es ein Mechanismus, den sie von Kiefernzapfen abgeschaut haben.
Ob in Büros, Schulen oder Wohnungen – der Klimawandel macht sich in Gebäuden unmittelbar bemerkbar. Klimaanlagen bieten zwar Abhilfe, lassen den Energieverbrauch aber in die Höhe schnellen. Das Verschattungssystem „Solar Gate“ setzt gleich doppelt Maßstäbe: Weder benötigt es zusätzliche Energie noch eine externe Steuerung. Denn die Module reagieren vollkommen selbstständig auf das Wetter. Sie schließen sich an heißen sonnigen Tagen und öffnen sich, wenn es kühl und bewölkt ist.Den Mechanismus, der dabei zum Einsatz kommt, hat der Biologe Thomas Speck von der Natur abgeschaut – von Kiefernzapfen. Sie schließen ihre Schuppen bei Feuchtigkeit, um ihre Samen zu schützen, und öffnen sie bei Trockenheit, damit die Samen sich über den Wind ausbreiten können. Diese kontrollierte Veränderung der Zapfen wird möglich durch zwei Schichten, die unterschiedlich auf Feuchtigkeit reagieren. Ein System, sagt Thomas Speck, „das extrem robust und resilient ist und auch bei großen Störungen noch relativ gut funktioniert“.Thomas Speck und der Stuttgarter Architekt Achim Menges haben diesen hygromorphen Mechanismus auf ihr neuartiges Verschattungssystem übertragen. Dazu werden im 3D-Drucker Module hergestellt, die ebenfalls zwei benachbarte Gewebeschichten besitzen, die unterschiedlich quellen sowie sich kontrolliert und schnell verformen können. In den Fenstern, die vor die Gebäudefenster gesetzt werden, hängen die Module an Metalldrähten zwischen den Scheiben. Die Luftfeuchtigkeit dringt durch Schlitze im Aluminiumrahmen ein und sorgt dafür, dass sich die Module innerhalb von 20 bis 30 Minuten komplett öffnen oder schließen.
Prof. Achim Menges & Prof. Dr. Thomas Speck: Solar Gate –
bioinspiriertes, wetterreaktives, adaptives Verschattungssystem

Materialeffizienz:
5,5 Kilogramm
Für die Herstellung von 424 unterschiedlichen, selbstformenden Elementen werden lediglich 5,5 Kilogramm Filament benötigt, das auf Zellulose basiert.

Die Intelligenz der Kiefernzapfen
Der Biologe Thomas Speck beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit Bewegungen bei Pflanzen, die unter anderem gewährleisten, dass sich Samen bei der optimalen Witterung effizient verbreiten können. „Uns hat interessiert: Wie macht der Zapfen es, wie öffnet und schließt er sich?“, sagt der Biologie. Die Ergebnisse flossen in eine Art Bauanleitung ein, die dem Stuttgarter Architekten Achim Menges als Vorlage diente für die Entwicklung der gedruckten Verschattungselemente. Nach aufwendigen Designstudien wurden Module aus biobasiertem Polyvinyl und Cellulosefasern entwickelt, die optisch aber wenig gemein haben mit Kiefernzapfen. Denn anders als bei Zapfen ist beim „Solar Gate“ entscheidend, dass die Module bei Sonne eine möglichst große verschattende Fläche bilden, sich aber auch so stark zusammenziehen können, damit etwa die Wintersonne ungestört ins Gebäude scheinen kann oder an bewölkten Tagen genügend Licht ins Gebäude fällt.

Auf dem Weg in die vierte Dimension
Die Solar-Gate-Module werden im 3D-Druckverfahren hergestellt. Eine neuartige additive Fertigungstechnologie ermöglicht, das Material so zu drucken, dass es auf Umweltreize reagiert und sich selbsttätig in die programmierte Form krümmt. Letztlich handelt es sich also um einen 4D-Druck, weil die vierte Dimension mit ins Spiel kommt: die Zeit.Durch die computerbasierte Fertigung lässt sich die Reaktionsfähigkeit des Materials präzise bestimmen und optimal für die Anwendung an Gebäuden anpassen. So wird sichergestellt, dass sich das Verschattungssystem verlässlich bei heißen, trockenen Bedingungen schließt und bei kaltem, feuchtem Wetter öffnet.
Robuster Mechanismus
Nach ersten Tests im Labor wurden die neuartigen Verschattungselemente realen Wetterbedingungen ausgesetzt und hierzu an der „livMatS Biomimetic Shell“ installiert. Das Forschungsgebäude am Freiburger Zentrum für Interaktive Werkstoffe und Bioinspirierte Technologien (FIT) besitzt ein nach Süden ausgerichtetes Oberlicht, an dem „Solar Gate“ angebracht und von einem Datenerfassungssystem überwacht wurde. Dabei zeigte sich, dass die Verschattungselemente zuverlässig und autonom auf eine Luftfeuchtigkeit zwischen zehn und 91 Prozent reagierten. Trotz wechselnden Wetters wiesen die Zellulose-Doppelschichten auch nach einem Jahr keine mechanischen Schäden auf.

Architekt Achim Menges
nutzt digitale Planungsmethoden, um Architektur anpassungsfähig zu machen. Mit seinem Team entwickelt er Strukturen, die auf Umweltbedingungen reagieren – und zeigt, wie Technologie und Natur zu intelligentem Bauen verschmelzen.
Achim Menges, 1975 geboren, hat in Darmstadt und London Architektur studiert. Er war von 2005 bis 2008 Professor an der Hochschule für Gestaltung Offenbach und parallel dazu Partner im Architekturbüro „Ocean North“. Seit 2008 ist Menges Professor an der Universität Stuttgart und hat sich im Bereich Architektur und Wohnen auf das adaptive Bauen sowie computerbasiertes Entwerfen und Fertigen spezialisiert.
Auch im Ausland war der gebürtige Mannheimer vielfach tätig, lehrte in London und in den USA – etwa an der Harvard Graduate School of Design. Der Forschungspreis 2025 der Gips-Schüle-Stiftung ist keineswegs die erste Auszeichnung für Achim Menges: Neben Awards wie dem Mies-van-der-Rohe-Award 2011 und dem International Design Award 2012 wurde er 2023 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit dem renommierten Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis geehrt. Seine interdisziplinäre Forschung zu digitalen Planungsmethoden und robotischen Fertigungsprozessen wurde dabei mit 2,5 Millionen Euro unterstützt.

robotischer Prozesse.
Biologe Thomas Speck
ist der Intelligenz der Natur auf der Spur. Seit Jahrzehnten erforscht er, wie Pflanzen wachsen, sich bewegen und sich perfekt an ihre Umwelt anpassen – und was wir daraus lernen können. Sein ganzes Wirken gilt den raffinierten Mechanismen der Pflanzenwelt.
Der gebürtige Karlsruher Thomas Speck hat an der Universität Freiburg Biologie studiert und promoviert. Nach Lehrtä-tigkeiten in Wien kehrte er 2002 zurück nach Freiburg und wurde Professor für Botanik, Funktionelle Morphologie und Bionik sowie Direktor des Botanischen Gartens der Universität. Seine Forschungen zur funktionellen Morphologie und Biomechanik von Pflanzen oder auch zur Evolutionsbiologie sind in mehr als 400 wissenschaftlichen Artikeln publiziert und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. 2013 erhielt Thomas Speck gemeinsam mit dem Bauingenieur Jan Knippers schon einmal den Forschungspreis der Gips-Schüle-Stiftung für den Flectofin, eine bionische Fassadenverschattung ohne Gelenke und Scharniere, deren Klappmechanismus von der Blüte der Strelitzie inspiriert war.
In den vergangenen Jahren war Thomas Speck unter anderem Sprecher des Exzellenzclusters „Living, Adaptive, and Energy-autonomous Materials Systems“. Thomas Speck ist Mitglied des Direktoriums des Freiburger Zentrums für interaktive Materialien und bioinspirierte Technologien sowie Sprecher des baden-württembergischen Kompetenznetzwerks Biomimetik.
